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Heilige Mitbürger

18. февраль 2020 10:00


Immer mehr Menschen fällt es schwer nachzuvollziehen, warum Menschen im Mittelalter gewaltige Kirchen errichteten, Monate lang auf Wallfahrt gingen und sich um ein Leben bemühten, das uns modernen Hedonisten fremd bleiben muss. Vor allem die Heiligen, die im christlichen Alltag eine entscheidende Rolle spielten, genießen seit der Reformation einen schlechten Ruf. Und doch kann man viele Bilder, die sich auf Brakteaten finden, nur dann verstehen, wenn man sich daran erinnert, dass sich der mittelalterliche Mensch dem Heiligen nahe fühlte und dessen Eingreifen ständig erwartete.

Auktion 335, Losnummer 3160 - Nordhausen. Damenstift zum Heiligen Kreuz. Berta, um 1160-1180. Brakteat. Sehr selten. Fast vorzüglich. Taxe: 3.000,- Euro

Dieser Brakteat führt uns ins Nordhausen der Jahre zwischen 1160 und 1180. Damals herrschte die Äbtissin Berta über das reiche Damenstift zum Heiligen Kreuz. Seinen Namen trug es nach einem Kreuzpartikel, den Otto III. den Nonnen um die Jahrtausendwende geschenkt hatte. Reliquien, die mit Christus in Verbindung standen, waren die kostbarsten aller Schätze. Nordhausen entwickelte sich dadurch zu einem Pilgerort, der solche Reichtümer ansammelte, dass die Nonnen ab 1130 begannen, eine gewaltige Kirche zu bauen.

Zu dieser Zeit wurde unser Brakteat geprägt. Er zeigt die Äbtissin Berta, wie sie vor dem hl. Eustachius kniet. Dieser sitzt ihr zugewandt. In der rechten Hand hält er den Palmzweig des Märtyrers, in der linken Hand den Kreuzstab, wie er häufig als Zeichen der kirchlichen Macht erscheint, hier aber durchaus doppeldeutig als Symbol für die wichtigste Reliquie des Klosters verstanden werden darf.

Die Szene scheint uns nicht ungewöhnlich: In unzähligen katholischen Kirchen gibt es Bilder, auf denen die Herrscher der Welt vor den Heiligen auf Knien liegen. Wir verstehen sie eher symbolisch, doch für Bertha war der hl. Eustachius, dem die Klosterkirche ursprünglich geweiht war, der natürliche Ansprechpartner, wenn es darum ging, den Bau der Kirche voranzutreiben. Man schrieb es dem Heiligen zu, dass Otto III. das Kloster begünstigt hatte. Schließlich lag es in seiner Macht, die Herzen der Menschen zu bewegen, großzügig für den Bau zu spenden.

Legenden berichten wiederholt, wie Heilige sorglose Bauarbeiter vor einem Sturz in die Tiefe retten; sie enthüllen dem Architekten, wo im Wald die hoch und gerade gewachsenen Bäume stehen, die für den Dachstuhl benötigt werden, und vieles mehr. Wo also hätte sich eine Bauherrin bessere Hilfe holen können als bei dem Heiligen, an dessen Altar die Gläubigen in der Kirche beten würden?

Auktion 335, Losnummer 3090 - Magdeburg. Brakteat. Hl. Mauritius mit Fahnenlanze und Schild vor Stadtmauer. Sehr selten. Vorzüglich. Taxe: 1.000,- Euro

Deshalb brauchte jedes ambitionierte Kirchenprojekt einen potenten Schutzherren. Kein Wunder, dass Kaiser Otto I. so großen Wert darauf legte, das von ihm gegründete Kloster in Magdeburg, aus dem er ein Erzbistum machen wollte, mit einem möglichst wirksamen Patron auszustatten. Zu Hilfe kam ihm dafür seine Verbindung mit dem burgundischen König. Dem hatte er die Herrschaft gerettet, und dafür bekam er die Reliquien des hl. Mauritius und einiger seiner Gefährten, die in der 515 gegründeten, sich unter burgundischer Kontrolle befindenden Abtei von St-Maurice lagen.

Ein Kriegerheiliger war natürlich äußerst passend für Magdeburg, das damals an der östlichen Grenze des Heiligen Römischen Reiches lag. In einer aufwändigen Prozession wurden die Gebeine nach Regensburg transportiert, wo sie Otto persönlich in Empfang nahm. Tietmar von Merseburg berichtet uns, dass man sie nach Magdeburg verbrachte, wo sie von den „einmütig versammelten Einwohnern samt der Landbevölkerung in Verwahrung“ genommen wurden.

Weshalb man ein paar alten Knochen einen solchen Empfang bereitete, zeigt unser Brakteat. Die Grenzbewohner erhofften sich effektiven Schutz: Der heilige Mauritius sollte auf ihrer Seite kämpfen, wenn es darum ging, Magdeburg zu verteidigen. Und so steht er wie ein realer Markgraf mit Fahnenlanze und Schild vor der Stadtmauer.

Kämpfende Heilige waren im Mittelalter übrigens keine Seltenheit. So trug der heilige Jakob den Beinamen Maurentöter, weil Gläubige ihn gesehen zu haben glaubten, wie er 844 auf einem weißen Pferd in die Schlacht von Clavijo eingriff.

Auktion 335, Losnummer 3140 - Merseburg. Eberhard von Seeburg, 1170-1201. Brakteat, Merseburg. Sehr selten. Gutes sehr schön. Taxe: 2.000,- Euro

Aber so weit müssen wir gar nicht gehen, um einen Heiligen zu finden, dem man eine realen Sieg zuschrieb. Otto I. hatte dem hl. Laurentius, an dessen Gedenktag die Schlacht auf dem Lechfeld gegen die Ungarn stattfand, für seine tätige Hilfe gedankt, indem er auch für ihn in Merseburg ein Bistum gründete, dessen Münze - natürlich mit einer Abbildung des Heiligen - wir hier sehen. Die Reliquien dafür dürfte Papst Johannes XIII. beigesteuert haben, der in der Synode von Ravenna gleich die beiden Bistümer Magdeburg und Merseburg legalisierte.

Auktion 335, Losnummer 3078 - Halberstadt. Gero von Schermbke, 1160-1177. Brakteat. Vorzüglich. Taxe: 500,- Euro

Aber damit hatte es Otto I. ein wenig übertrieben. Nun gab es an der östlichen Grenze des Heiligen Römischen Reichs gleich drei bedeutende Bischofssitze: Halberstadt, Merseburg und Magdeburg. Das waren zu viele, als dass sich ihre Inhaber den Prunk hätten leisten können, den sie für angemessen hielten.

Das Bistum von Halberstadt war älter als die beiden von Otto I. geförderten Bischofssitze. Es stammte noch aus karolingischer Zeit. Doch das war kein Argument. Es mussten bessere Gründe her, wenn Halberstadt seine Bedeutung behalten wollte. Was für ein Glück, dass der Bischof von Metz so verschuldet war, dass er ein paar Reliquien des hl. Stephanus verkaufen musste! Der Bischof von Halberstadt nahm sie nur zu gerne.

Denn die Gebeine der Heiligen galten im Mittelalter nicht als Objekte, über die Menschen so einfach verfügen konnten. Im Gegenteil, sie besaßen ihren eigenen Willen und entschieden durch ihr Verhalten, wohin sie wollten: So ließ sich der Körper des hl. Jakob mit dem Schiff nach Spanien tragen und zeigte sich erst dem Eremiten Pelayo. Oder der Leichnam des heiligen Gebhard von Konstanz; der weigerte sich, im Konstanzer Dom begraben zu werden, indem er so schwer wurde, dass niemand ihn bewegen konnte. Irgendwann gaben die Gläubigen klein bei und beerdigten ihn, wie von ihm gewünscht, in seinem Kloster Petershausen.

Auktion 335, Losnummer 3081 - Halberstadt. Gardolf von Harbke, 1193-1201. Brakteat. Sehr selten. Vorzüglich. Taxe: 1.500,- Euro

Es steckte also der hl. Stephanus höchstpersönlich dahinter, wenn der Bischof von Metz in einen finanziellen Engpass geriet. Der Heilige wollte lieber in Halberstadt als in Metz Wohnung zu nehmen. Damit wurde er zu einem heiligen Bürger der Stadt, der bereit war, Bürger und Geistlichen auch weiterhin zu schützen.

Auktion 335, Losnummer 3075 - Halberstadt. Ulrich von Reinstein. Brakteat. Äußerst selten. Vorzüglich. Taxe: 3.500,- Euro

Dass ausgerechnet der hl. Stephanus sich entschied, Halberstadt zu Hilfe zu eilen, das war genau das Argument, das der Bischof brauchte: Stephanus stach den Laurentius von Merseburg nämlich aus! Er war gemäß der Apostelgeschichte der erste Märtyrer der Christenheit gewesen und übertraf damit Laurentius als Diakon von Papst Sixtus II. (257-258). Tatsächlich wurde wenig später nicht Halberstadt, sondern Merseburg aufgelöst, nur um unter Kaiser Heinrich II. gleich noch einmal neu gegründet zu werden.

Auktion 335, Losnummer 3150 - Erfurt als Münzstätte der Erzbischöfe von Mainz. Heinrich von Harburg, 1142-1153. Brakteat. Vorzüglich. Taxe: 750,- Euro

Während wir die bisher genannten Heiligen eher dem Reich der Legende zuordnen, wusste der mittelalterliche Mensch, dass sie alle gelebt und gewirkt hatten, und dass Heilige neben und mit ihm lebten, wobei er sie zumindest bis ins 10. Jahrhundert hauptsächlich unter den Geistlichen erwartete.

Ein Beispiel ist der historisch gut belegte hl. Martin, der auf diesem Brakteaten des Bischofs von Mainz dargestellt ist. Er wurde im ersten Drittel des 4. Jahrhunderts in Pannonien geboren. Martin war Sohn eines römischen Offiziers und damit gesetzlich verpflichtet, die 25jährige Dienstzeit abzuleisten. Nachdem er seinen Dienst abgeleistet hatte, entschied er sich für eine kirchliche Karriere. 1371 wurde er Bischof von Tours. 1397 starb er im Ruf der Heiligkeit.

Schnell entwickelte sich der hl. Martin zum Schutzpatron der Merowinger, und als die das Erzbistum Mainz gründeten, gab es deshalb natürlich keinen besseren Schutzherrn als den hl. Martin. So kam er auch in das Mitte des 8. Jahrhunderts mit Mainz zusammengelegte Bistum Erfurt, wo dieser Brakteat entstand.

Denn auch Heinrich von Harburg (1142-1153) wusste mit dem hl. Martin zu argumentieren. Nur zu gerne hätten nämlich die Reformpäpste, die enge Verbindung aufgelöst, die den Mainzer Erzbischof als Reichsverweser mit dem Kaiser verband. Doch der hl. Martin der Merowinger war ein würdiger Gegenspieler zum hl. Petrus der Päpste.

Auktion 335, Losnummer 3165 - Thüringen. Ludwig III., 1172-1190. Brakteat, Gotha. Stempelglanz. Taxe: 10.000,- Euro

Überhaupt gewannen die ritterlichen Fürsten des Reichs im Hochmittelalter, als diese Brakteaten entstanden, ein neues Selbstbewusstsein. Als streitbare Krieger des christlichen Gottes begaben sie sich auf die bewaffnete Wallfahrt. Jeder konnte dabei in den Rang eines Heiligen aufsteigen. Einen dieser Ritter, Ludwig III. von Thüringen, sehen wir hier. Er starb 1190 während des dritten Kreuzzuges und war Onkel eines Heiligen. Sein Neffe, Ludwig IV., wurde in Thüringen nach seinem Tod während des Kreuzzugs als Heiliger verehrt. Doch während seine Gattin Elisabeth bis heute zu den beliebtesten Heiligen gehört, unterband die Kirche die Verehrung eines Mannes, der ausgerechnet auf dem Kreuzzug des gebannten Kaiser Friedrich II. umgekommen war.

Denn neben dem Glauben an die Wirkmächtigkeit der Heiligen existierte natürlich auch der Wille der Machthaber, diesen Glauben zum eigenen Vorteil zu nutzen. Trotzdem: Die Bilder der romanischen Brakteaten waren für ihre Betrachter weit mehr als reiner Schmuck. Wer versucht, den Heiligenglauben des Mittelalters auf modernes Zweckdenken zu reduzieren, dem bleibt die Botschaft dieser wunderbaren Brakteaten ein Geheimnis.